California Dreaming

Spielberg Verlag
2013
211 Seiten
10,90 €
ISBN 978-3-95452-632-1

Als Sheila erfährt, dass ihr Sohn bei einem Erdbeben ums Leben gekommen ist, fliegt sie nach San Francisco, um seine sterblichen Überreste zu identifizieren. Vier Jahre zuvor war er aus der erdrückenden Provinz-Idylle Virginias in die Metropole geflohen. Aus ihrem alten Leben herauskatapultiert begibt sich Sheila auf Spurensuche nach ihrem verlorenen Sohn.

Leseprobe

Die Golden Gate Bridge war in dicke Nebelschwaden getaucht. Vom Fischerhafen aus konnte Sheila nur die rostroten Pfeiler­spitzen erkennen; es schien, als sei eine zu tief schwebende Wolke an den Stahlseilen aufgehängt. Die Fahrbahn der Brücke blieb gänzlich verhüllt. Es begann zu regnen. Sheila spannte ihren Schirm auf und ging die Holzplanken entlang zum Pier. Ihr Schritt war ein wenig steif, dazu hastig, als wäre sie in Eile, obwohl sie keine Termine hatte.
Sie fasste mit einer Hand ans nasskalte Geländer. Ein kleiner Junge rannte an ihr vorbei und jagte eine Möwe, die kreischend davonflog. Sheila schaute den Seelöwen zu, wie sie auf den Bootsanlegern dösten und sich räkelten, ab und zu tauchte einer aus dem Wasser auf und schwang sich kraftvoll auf die Plattform. Ihre Felle waren braun, die runden Augen schwarz und glänzend. Jeder von ihnen hatte ein anderes Gesicht. Im Laufe der Woche hatte Sheila ein paar Tieren Namen gegeben. Der große Dicke sah aus, als könnte er Eddie heißen.
»Die Seelöwen sind erst seit Kurzem da«, sagte eine Stimme neben ihr. »Zuvor haben sie sich drüben bei den Felsen aufgehalten.«
Sheila war sich nicht sicher, mit wem der Mann redete, es waren bei diesem Wetter nicht viele Leute unterwegs. Sie starrte aufs Meer hinaus.
»Kommen Sie jeden Tag hierher?«, sprach er sie an.
Sheila zuckte zusammen und musterte den Fremden aus dem Augenwinkel, er sah asiatisch aus. In Amherst lebten nicht viele Asiaten.
»Schöne Farbe«, sagte der Mann und deutete auf ihren Schirm. Sheila nickte. Sie hatte ihn auf dem Weg zum Hafen in einem der Souvenirläden gefunden. Blau war Jamies Lieblingsfarbe gewesen; als er noch klein war, hatte er nur blaue Sachen tragen wollen.
Der Mann schien auf eine Erwiderung zu warten, aber Sheila fiel nichts Passendes ein. Sie hatte seit ihrer Ankunft praktisch mit niemandem gesprochen, ihr Kiefer fühlte sich wie eingerostet an. Was sollte sie sagen? Dass die Seelöwen niedlich sind? Sein Englisch war akzentfrei, vermutlich lebte er hier. Sheila war fremd; sie hatte kein Zuhause mehr und kam aus der tiefsten Provinz. Nachdem ihr die Nachricht vom Jamies Tod überbracht worden war, hatte sie ihre Koffer gepackt, war in die nächste Maschine gestiegen und nach San Francisco geflogen. Sie wusste nicht, wie lange sie in dieser Stadt bleiben würde, eigentlich wusste sie gar nichts mehr.
»Sie sind zwar drollig, aber auch irgendwie – «, Sheila stockte.
Der Mann lachte leise. »Es klingt, als würden sie jammern.«
Sheila nickte wieder. Sie klagen. Und manchmal schluchzen sie.