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Jens hat in Hamburg Schiffbruch erlitten und ist aus der Großstadt nach Regensburg zurückgekehrt. Er jobbt in einer Werbeklitsche, obwohl er als Künstler hoch hinaus wollte. Seit dem Suizid seines besten Freundes Frank ist er wie gelähmt. In seiner desolaten Lage verliebt er sich ausgerechnet in die neue Nachbarin, die als Street-Art-Aktivistin der Werbeindustrie den Kampf angesagt hat und nachts Plakate „umbaut“. Trespass ist überzeugte Singlefrau, der ihre Unabhängigkeit heilig ist. Allerdings haben Jens und Trespass den selben Traum: Mit der alten Straßenbahn durch Regensburg zu rattern.
Leseprobe Jens trat ans Fenster und knöpfte sich das Hemd zu, ein bunt gemustertes, das zu keiner Krawatte passte. Jens trug keine Krawatten, nicht einmal bei seiner Firmung hatte er eine getragen, sie hingen im Schrank wie zur Zierde, ein zärtlich-ironischer Anachronismus. Im zweiten Stock gegenüber brannte Licht, die Balkontüre stand halb offen. Eine Frau mit kurz geschnittenen, rötlichen Haaren saß am Schreibtisch. Sie trug ein orangefarbenes 70er-Jahre-Kleid und soweit er es erkennen konnte, keine Strümpfe; die nackten Beine übereinander geschlagen. Sie sah seiner Cousine verblüffend ähnlich. Bloß mit dem Unterschied, dass kein Mensch auf der Welt Lizzy dazu hätte bringen können, ein Kleid anzuziehen. Ihm wurde heiß. Es sah aus, als schriebe sie einen Brief, doch wer schreibt heute noch Briefe, obendrein mit einer großen weißen Feder. Alt war seine Nachbarin jedenfalls nicht, vielleicht Ende dreißig. Jens konnte sich nie merken, wie alt er selbst war, Mitte dreißig sagte er immer, wenn er gefragt wurde. Wie, Mitte dreißig? Er konnte die Fragerei nicht ausstehen, besonders von Frauen. Im Grunde genommen interessiert das niemanden, was sagt es schon aus, wie alt jemand ist. Wie lange er noch Mitte dreißig sagen könnte? Seine Haare waren vom Duschen nass und tropften. Er hatte noch vor auszugehen, seine neuen Arbeitskollegen trafen sich im Murphy’s Law, eine gute Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen. Socializing, wie ihn das nervte, er hatte keine Lust auf dieses seichte Gequatsche. Jens strich sich übers Kinn, rasieren sollte er sich auch noch, ein Dreitagebart war das nicht mehr. Eine Weile stand er unschlüssig herum und trat von einem Fuß auf den anderen. Wenigstens würde die Musik so laut sein, dass sich eine Unterhaltung ohnehin erübrigte. Die Frau gegenüber blickte verträumt drein, das machte sie noch anziehender. Sie faltete ihren Brief zusammen, zögerte kurz und steckte ihn in ein Kuvert. Wem sie wohl schrieb? Unvermittelt lächelte sie – irgendetwas schien sie glücklich zu machen. Über der Häuserzeile leuchtete ein prächtiges Abendrot. Wenn die Anwohner der Gasse jetzt noch ihre Wäsche zum Trocknen raushängen würden, sähe es so aus wie in der Altstadt von Lissabon. |