Das Surrealistische Büro

Schrägverlag
2018
128 Seiten
9,63 €
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Paris in den 20ern: Man Ray fotografiert staubige Glasplatten. Berenice Abbott lehnt in der Tür zur Dunkelkammer; sie hat ihre Koffer gepackt und verlässt das Atelier. André Breton küsst Simone Kahn. Marcel Duchamp gibt die Kunst zugunsten des Schachspiels auf. Jean Eugène Auguste Atget dokumentiert das alte Paris, bevor es verschwindet. Louis Aragon bekommt ein Paar Handschuhe einer unbekannten Besucherin geschenkt. Nancy Cunard trägt ein exquisites Schlauchkleid und mischt den ganzen Laden auf. Claude Cahun rasiert sich die Haare. Adrienne Monnier überbringt 5000 Francs. Max Ernst bringt eine Dose Thunfisch mit. Sylvia Beach ist verzweifelt und Valeska Gert tanzt die sentimentale Passivität der Tangodame, während Tristan Tzara übersetzt … So könnte es gewesen sein, vielleicht war es aber auch ganz anders. «Das surrealistische Büro» ist kein Roman. Es ist ein Kaleidoskop. Es lässt den Leser als Beobachter teilhaben an der Entstehung des Surrealismus: Im «Büro für surrealistische Forschungen» in der Rue de Grenelle 15, wo sich in einer Männerrunde um André Breton die Gemüter über das Thema Sexualität erhitzen, das auf skurrile Weise rein intellektuell diskutiert wird. Im Café Certa, in Atgets Atelier, im Aux Deux Magots, in Bretons Wohnung in der Rue Fontaine.

«Das surrealistische Büro» setzt sich aus einer Reihe atmosphärisch dichter, poetischer Kurztexte zusammen, die – entsprechend einer surrealistischen Arbeitstechnik – einer Collage gleichen und den Eindruck der Gleichzeitigkeit der Geschehnisse vermitteln. Bekannte und unbekannte Künstler der damaligen Avantgarde werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Lebenswelt der Pariser Künstlerinnen liegt. So trifft Berenice Abbott, während sie sich in ihrer Mittagspause auf Motivsuche begibt, um einem Streit mit ihrem Arbeitgeber Man Ray aus dem Weg zu gehen, auf Eugène Atget, wie er sich mit seiner monströsen Kamera durch die Straßen schleppt. Claude Cahun inszeniert sich selbst vor der Kamera als Verwandlungskünstlerin und sucht nach ihrer Identität jenseits des stereotypen Frauenbildes ihrer Zeit. Und Marcel Duchamp verweigert sich der Kunst und erfindet sie neu.

Die Erzählungen sind so ineinander verschlungen, dass nach und nach einzelne Facetten der komplexen Charaktere und das Beziehungsgeflecht der Künstler ans Licht treten. Man möchte verweilen in diesem schillernden Paris der 20er Jahre, doch der Schlussteil des Buches, der thematisch um die Versteigerung des Nachlasses der Surrealisten kreist, holt den Leser zurück in die Gegenwart.

Die Textcollage von Angela Kreuz findet ihre bildliche Entsprechung in den Illustrationen von Bernhard Rusch, die die im Buch auftretenden Künstlerinnen und Künstler in Szene setzen.

Leseprobe

Irgendwie roch es nach verdorbenem Fisch. Tanguy schnupperte und kippelte mit dem Stuhl, der ein nervöses Knarren von sich gab. Sein Blick fiel auf einen seltsamen Gegenstand. «Ui!» Er deutete auf das Telefon, das auf einem Aktenschränkchen thronte. Anstatt eines Hörers war es mit einem Hummer ausgestattet. Tanguy verzog das Gesicht. «Dalí», erklärte Breton kurzangebunden. Die Tür schellte. Eine elegant gekleidete Frau betrat das Büro. Sie schaute in die Gesichter der drei jungen Männer, die sie erwartend ansahen, und hängte ihren Mantel auf. «Bonjour.»
«Du bist spät dran, meine Liebe», sagte Breton; unterdrückter Ärger lag in seiner Stimme.
«Ich musste beim Friseur warten», sagte seine Frau und betastete ihre frischen Wasserwellen. Breton trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. «Fangen wir endlich an.»
Simone setzte sich an den Sekretär und spannte einen Bogen Papier in die Schreibmaschine. Das Telefon klingelte. Breton nahm den Hummer ab. «Ja?» Er runzelte die Stirn und blickte in die Männerrunde. «Es ist Duchamp, er möchte mitmachen.»
«Dann soll er vorbeikommen», sagte Man Ray und klopfte sich ungeduldig auf die Schenkel.
«Duchamp sagt, er sei gerade in New York. Er will am Telefon mitdiskutieren.»
«Sehr gut», sagte Tanguy und verschränkte seine Arme im Nacken. Breton nickte in eiserner Selbstbeherrschung und setzte sich. Er klemmte sich den Hummer unters Kinn.
«Simone, bist du soweit?»
«Ja, André.»
«Was denkt Man Ray über das Onanieren?», fragte Breton. Er nestelte am Telefonkabel. Die Schreibmaschine klapperte.
«Ich halte es für die ideale Lösung, wenn keine Frau anwesend ist», sagte Man Ray. «Tanguy?»
«Sehr gut», sagte Tanguy. Er beugt sich nach vorne und schaute versonnen auf den Parkettboden. Die über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen bildeten einen breiten Strich. Er trug seine Haare zu einem Schopf gebürstet, vermutlich um von den hohen Geheimratsecken abzulenken. Ein Trick, der strenggenommen selten funktionierte. Gerade Frauen sprachen ihn gerne auf seine lichter werdende Haarpracht an. Man Ray hatte das gleiche Problem, kümmerte sich aber nicht darum. Er betrachtete das Portrait von Berenice Abbott an der Wand; mit diesem Foto hatte er vor zwei Jahren einen Preis gewonnen. Es geschah der Ziege recht, dass sie für wenig Geld in seiner Dunkelkammer schuftete.
«Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?», fragte Breton. Tanguy schwieg und kippelte wieder.
«Tanguy hat offenbar seinen Text vergessen», bemerkte Man Ray bissig. Seine gedrungene Gestalt mit dem wilden Gesichtsausdruck hatte etwas von einem Stier.
«Idiot», sagte Tanguy.
«Duchamp?» Breton sprach in den Hummer. Er knetete mit der linken Hand seine vollen Lippen. Es folgte ein Kratzen aus der Leitung. «Er sagt, ‹sie hat einen warmen Po›.»
Man Ray schüttelte den Kopf. «Duchamp soll die Frage beantworten.»
«Er hat aufgelegt», sagte Breton und warf den Hummer auf die Gabel. Er wischte sich die Hand an seiner Flanellhose ab.
«Wie denkt Breton darüber?», fragte Tanguy.
«Worüber?»
«Onanie.»
Breton ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Als er zurückkam, sagte er: «Nun ja, es ist ein legitimer Ausgleich für bestimmte traurige Seiten des Lebens.»
Tanguy nickte zustimmend. Man Ray kratzte sich am Kopf. «Spielt die Vorstellung von Frauen dabei eine Rolle?»
«Wozu Frauen?», sagte Tanguy und zog die Stirn kraus. Er musterte verschiedene Gipsabdrücke von Frauenkörpern, die über der Tür angebracht waren.
Breton schielte zu Simone hin. Sie schob den Hebel der Schreibmaschine von links nach rechts. «Absolut», sagte er schnell. «Aber nur von der Frau, die ich liebe.»
«Meistens Frauen», sagte Man Ray. «Bis auf gelegentliche Ausnahmen.»
«Die da wären?», fragte Beton nach.
«Ach, was weiß ich?» Man Ray zuckte mit den Schultern.
«Tiere?», fragte Tanguy. Man Ray gähnte. Breton schaute ihn eindringlich an. «Wie denkt Man Ray über die Homosexualität?»
«Viel Unterschied ist da nicht», antwortete Man Ray.
«Physisch meine ich. Höchstens emotional. Wie denken Sie darüber, Breton?»
«Ich bin entschieden dagegen.» Breton ballte die Hand zur Faust.
«Ich nicht», sagte Tanguy. Er kicherte.
Breton stand auf und sah seiner Frau über die Schulter. Auf seinen Wink zog sie das Blatt aus der Maschine und überreichte es ihm.
«So passt das nicht ins Bild der Surrealisten», murmelte er. «Wir müssen unsere Diskussion zu einem späteren Zeitpunkt wiederholen.» Er zerriss die Seiten und warf die Schnipsel in den Papierkorb.